Helmut Augustiniak
Ein Jude in Ketzin

Im Jahr 1896 lebten in Ketzin 3518 Einwohner, darunter acht Bürger jüdischen Glaubens, wie der Bürgermeister Otto Zesch in seinem „Bericht über die Verwaltung der Gemeindeangelegenheiten der Stadt Ketzin“ 1897 an die Regierung in Potsdam meldete. Diese Zahl hatte sich bis 1933 kaum verändert. Über das Schicksal der jüdischen Menschen ist bis heute wenig bekannt.

In der Plantagenstraße 16 gab es einen Textilladen,dessen Inhaber der jüdische Kaufmann Selik Kestenbaum aus Polen war. Er zog 1927 aus Berlin nach Ketzin, wohnte erst in der Königstraße 35 (heute Rathausstraße) und zog im Juni 1928 in die Plantagenstraße. Hier lebte er mit seiner Familie, der Ehefrau und dem 1930 geborenen Sohn bis 1932. 

Die Hetze gegen die Juden und damit verbundene repressive Maßnahmen begannen mit der Machtübernahme Hitlers in immer größerem Ausmaß. 

Schon im Februar und März 1933 gingen Angehörige der NSDAP und SA gegen einzelne Juden, aber auch vor allem gegen jüdische Geschäfte vor. Für den 1. April 1933 wurde für das ganze Reich zum Boykott jüdischer Geschäfte aufgerufen.  Neben SA und SS beteiligte sich besonders der militante Kampfbund des gewerblichen Mittelstandes an dieser Boykottaktion. Sein Hauptziel war der Kampf gegen jüdische Geschäfte.

Während in vielen Orten Deutschlands gewalttätige Ausschreitungen gegen jüdische Geschäfte erfolgten, war es in Ketzin verhältnismäßig ruhig in dieser Frage. Selik Kestenbaum war bei der einfachen Bevölkerung der Stadt recht beliebt und geachtet. Sein Geschäft war mit Waren vollgestopft und jeder, der in das Geschäft ging, kaufte etwas. Kestenbaum schien ein Verkaufgenie gewesen zu sein. Ein Vorteil von ihm war, dass Leute, die etwas brauchten, nicht sofort bezahlen mussten. Sein Ausspruch war, wie Zeitzeugen berichteten: „Ach, nehmen Sie mit. Bezahlen Sie später. Ich weiß ja, dass ich von Ihnen das Geld bekomme.“

Aber ganz wollten sich die Ketziner Nazis aus der Boykottaktion nicht heraushalten. So meldete der „Ketziner Anzeiger“ von 1. April 1933: „Zum Abwehrkampf gegen Greuelmärchen wurden heute Vormittag auch bei uns große Plakate mit der Aufforderung, nicht in jüdischen Geschäften zu kaufen, durch die Straßen getragen.“.  Der Abwehrkampf gegen Greuelmärchen war der Vorwand für den Boykott. Angeblich hatten im Ausland jüdische Organisationen antideutsche Greuelpropaganda betrieben.

Offiziell war dieser Boykott nur für den 1. April 1933 vorgesehen. Aber er hatte Nachwirkungen. Die Hetze gegen Juden wurde in den Provinzen des Reiches je nach Gegebenheit fortgesetzt. In den Versammlungen der NS-Organisationen gab es immer einen Passus, der die Ausgrenzung und Vernichtung der jüdischen Bevölkerung beinhaltete. Auch von der Ortsgruppe der NSDAP in Ketzin wurden Redner angefordert, die über die jüdische „Rasse“ referierten. So führte einer von ihnen aus, dass man Juden auch am Geruch erkennen könne. Da sie aus anderen Klimazonen stammen, die mit dem Wetter in Europa nicht übereinstimmten, sondern Juden Gerüche ab. Der Ausspruch „Du stinkst, wie ein Jude!“ beweise diese These.

Dass diese Politik der Nazis für die Juden Ausgrenzung, Entrechtung und Vernichtung bedeuten würde, hatte Selik Kestenbaum wohl schon sehr früh erkannt. Im Februar 1934 verließ er Deutschland und wanderte nach Brasilien aus.

Von 1938 bis 1941 überwies die Besitzerin des Grundstücks Ketzin, Plantagenstraße 16 mit Genehmigung des Oberfinanzpräsidenten Brandenburg an Selik Kestenbaum, Rio de Janeiro, Brasilien quartalsweise Zinsen für eine Hypothek von 3000,00 Reichsmark. Als die Hypothek 1941 ablösen wollte, wurde ihr von „Der Beauftragte für den Vierjahresplan-Haupttreuhandstelle Ost-Sonderabteilung Altreich-“  mitgeteilt, dass das Vermögen von Selik Kestenbaum aufgrund der „Verordnung über die Behandlung von Vermögen der Angehörigen des ehemaligen polnischen Staates“ beschlagnahmt und zugunsten des Deutschen Reiches eingezogen wird.

Damit verlieren sich die Spuren von Selik Kestenbaum in Ketzin.
Zur Hauptseite