Helmut Augustiniak
Das "Rote Schloss" in Ketzin/Havel

Das "Rote Schloss" im Jahre 1920
In der ersten Hälfte des 19.Jahrhunderts verlief die Stadtgrenze von Ketzin/Havel von der Havel kommend entlang der heutigen Baustraße, an der Rückseite der Plantagenstraße entlang. Sie durchschnitt den Schmähl und endete wieder in der Havel. Die heutige Rudolf-Breitscheid-Straße hieß zu der Zeit „Trift“. Sie war ein bei Regen kaum zu passierender Landweg, an deren Anfang der Bauernhof des Großbürgers Wilhelm Albrecht stand. Dieser Weg zog sich an den Gärten vorbei, die zu den Häusern der Plantagenstraße gehörten.
Mit der Entstehung der Ziegeleien um Ketzin/Havel wuchs rasant die Bevölkerung. Es wurden Wohnungen gebraucht, was zur Folge hatte, dass die Trift als neue Straße im Ort entstand. Als erstes Haus wurde neben dem Gehöft von Wilhelm Albrecht das Wohnhaus des Ziegeleibesitzers Albert Kuhberg gebaut. Es erhielt die Nummer 1 in der neu entstehenden Straße. Daneben zog sich ein Feldweg zum Kiekelberg hin – die heutige Feldstraße. Der Baumeister des Wohnhauses von Kuhberg hatte mehrere Aufträge in Ketzin/Havel, sah die Bevölkerungsentwicklung in der Stadt und baute auf seine Rechnung auch Familienhäuser mit Mietwohnungen für die ärmere Bevölkerung. So entstand 1873 das Haus Nummer 2 in der neuen Straße – das später das Rote Schloss genannt wurde. Selbst in einem Dokument, das der Bürgermeister Oscar Reumschüssel Anfang der zwanziger Jahre des vorigen Jahrhunderts an ein Magistratsmitglied schrieb, nannte er das Haus „Rotes Schloss“. Woher dieser Name kommt, ist umstritten. Wahrscheinlich entstand er in Anlehnung an die ehemals etwas rot gefärbten Ziegel, die zum Bau des Hauses verwendet wurden. Hartnäckig hält sich die Meinung, es wurde so genannt, weil in dem Haus KPD- und SPD-Mitglieder wohnten.
Nach dem Maurermeister Weigel, dem Erbauer und ersten Besitzer, erwarb der Handelsmann Stanislaus Walosik das Haus. Er selbst wohnte in einer Zweiraumwohnung im Erdgeschoss des Hauses und hatte u. a. einen kleinen Getränkehandel. Aus seiner Wohnung heraus verkaufte er seine Waren. Da er genauso arm war wie alle anderen Mieter, erfolgten natürlich keine Investitionen im und am Haus. Die ständigen Beschwerden der Mieter über ihre schlechten Wohnverhältnisse führten dazu, dass Walosik das Haus an den Kaufmann Bruno Bierwagen aus Landsberg an der Warthe, heute Gorzow in Polen, verkaufte. Es warf infolge der geringen Mieten wenig Gewinn ab. Nach Bierwagen erwarb die Grundstücksverwaltung J. Schwabe aus Berlin das Haus.
Die Bewohner in dieser Mietskaserne waren Arbeiterfamilien, die zu den ärmsten Bevölkerungsschichten in Ketzin/Havel zählten. Sie kamen u. a. aus Schlesien und Polen. Sie waren als Arbeiter in den Ziegeleien tätig, als Hilfsgärtner in der Späthschen Baumschule, als Hilfsarbeiter beim Gleisbau, als Träger in der Zuckerfabrik, die beim Beladen der Havelkähne und Eisenbahnwaggons die 75 kg Zuckersäcke auf ihren Schultern trugen. Auch als Arbeiter auf der Vorketziner Mülldeponie hatten sie ein bescheidenes Einkommen.
Die Wohnverhältnisse im Roten Schloss waren dieser Einkommensgruppe angepasst. Es gab nur Ein- und Zweizimmerwohnungen, die in ihrer Größe kaum variierten. Das Wohnzimmer war ca. 16 qm groß und das zweite Zimmer ca. 12 qm. Die Küchengröße variierte in den einzelnen Wohnungen zwischen 6 bis 12 qm. Die Dachgeschosswohnungen besaßen keine Küchen, die gemauerten Kochherde befanden sich vor den Wohnungstüren auf dem Dachboden. In diesen Wohnungen lebten Familien mit mehreren Kindern. Die zu beiden Seiten der Wohnstube angrenzenden Kammern hatten keine verputzten Kammerdecken. Die Dachsparren und die –ziegel bildeten den oberen Abschluss der Kammer. Das hatte natürlich zur Folge, dass es ständig durchregnete. Die Beschwerden der Bewohner beschäftigten permanent den Ketziner Magistrat. Die verschiedensten Besitzer des Hauses reagierten darauf nur mit Ausflüchten. Es änderte sich nichts.
Im Hof des „Roten Schlosses“ befand sich ein großes Stallgebäude für 15 der 19 Mietparteien. Das Gebäude war so primitiv gebaut, dass das Dach schon einige Jahrzehnte danach erneuert werden musste. Hier lagerten die Bewohner ihren Vorrat an Heizmaterial, hatten dort auch ihre Fahrräder abgestellt und hielten in diesen engen Ställen Kaninchen und manchmal auch Schweine. Das hatte n zur Folge, dass es eine stabile Rattenpopulation in den Ställen gab. Die Bewohner hatten sich daran gewöhnt. Sie fanden es auch nicht erschreckend, wenn so ein Tier bei Tageslicht über den Hof lief.
Waschküche und Kellerhals
Besonders primitiv waren das Toilettengebäude und die „Aschegrube“. Für die über 50 Bewohner des Hauses gab es in einem kleinen Holzgebäude drei „Plumpsklos“. Diese befanden sich von den verschiedenen Haustüren 20 bis 30 Meter entfernt. Gleich unter den Toiletten befand sich eine riesige „Klogrube“, die aus Ziegeln gemauert und mit Holzbohlen abgedeckt war. Für Bewohner, die nachts im Winter bei strenger Kälte mit einem Talglicht oder in moderner Zeit mit einer Taschenlampe bestückt, die Klos aufsuchen mussten, war das ein Abenteuer. Erst 1938 wurden auf Befehl des NSDAP-Kreisleiters noch weitere drei Toiletten angebaut. Die gesamte Anlage wurde in den 80ger Jahren des vorigen Jahrhunderts wegen Baufälligkeit abgerissen. Es wurde ein steinernes Toilettengebäude mit einer Sickergrube errichtet. 
Die Aschegrube war ein größeres gemauertes Viereck, das mit Wellblech abgedeckt war. Durch eine Klappe aus demselben Material wurden hier der Hausmüll und die Asche aus den Herden und Öfen entsorgt. 
Sowohl die Fäkalien- als auch die Aschegrube wurden in der Regel durch den Hausverwalter, Vizewirt genannt, entleert. Dieser besaß als besonderes Privileg neben den Toiletten einen kleinen mit einem Zaun umgebenen Garten.
Trink- und Brauchwasser holten sich die Mieter in den ersten Jahrzehnten von einer im Hof befindlichen Pumpe. Erst 1931 wurden Wasserleitungen in den Wohnungen installiert. Bis zum Bau der Kanalisation in der Stadt, floss das Abwasser auf die Straße.
Solche Wohnverhältnisse gab es in Ketzin/Havel in zahlreichen Wohnhäusern. Da die Miete auch noch zu DDR-Zeiten für eine Zweiraumwohnung im „Roten Schloss“ nur 14 DDR-Mark betrug, war die Verbesserung der Wohnverhältnisse illusorisch. 
Breitscheidstraße 2
Zur Wende 1989 wohnten noch 10 Mieter in dem großen Gebäude. Diesen wurden nach und nach andere Wohnungen zugewiesen. Das „Rote Schloss“ war nicht mehr bewohnbar. Die Elektroleitungen hingen von den Wänden, die Gasleitungen waren marode und die Wasser- und Abwasserversorgung stockte aufgrund verstopfter Versorgungsleitungen. Der größte Teil davon war seit dem Bau des Gebäudes vor über hundert Jahren nicht erneuert worden.
1993, das Wohnhaus war 120 Jahre alt, zogen die letzten Mieter aus. Seit dem steht das Haus leer. Die Fenster sind eingeschlagen, die Eingänge oft aufgebrochen, das Stallgebäude eingefallen. Die Natur erobert sich das Terrain zurück.. Es herrscht eine fast undurchdringliche Wildnis auf dem Gelände. 2012 erwarb die Stadt das Gebäude. Es liegt im Sanierungsgebiet von Ketzin/Havel. Die Ruine abzureißen und etwas Neues zu bauen, wird die Millionengrenze für Investitionsmittel überschreiten. Ein Investor ist bereit, ein modernes Mehrgenerationenhaus zu errichten, wenn entsprechende Fördergelder bewilligt werden. Nur für Leute mit durchschnittlichem Einkommen sind die angedachten Mieten nicht bezahlbar.
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