Helmut Augustiniak
Ziegeleiarbeiter in Ketzin

Ziegeleiarbeiter in Ketzin
1838 erschien in Ketzin ein Mann, der die Lebensverhältnisse in der Stadt gründlich verändern sollte - Adolph Leberecht Traugott Ludwig Kaselitz. Er wurde als Organist und 2. Lehrer eingestellt. Verließ aber 1843 wieder Ketzin, da er in seinem Beruf Schwierigkeiten hatte. Er wurde nach Garlitz versetzt. Hier gab er seinen Lehrerberuf auf. Er kehrte nach Ketzin zurück und übernahm hier die Gastwirtschaft seines Schwiegervaters Friedrich Wilhelm Kennler. Kaselitz war ein umtriebiger Mensch. Er entdeckte die Tonvorkommen im Ketziner Bruch und in der Ketziner Feldmark, baute die erste Ziegelei in Vorketzin und handelte mit Baustoffen. 
Die preußische Hauptstadt Berlin brauchte für ihre Erweiterung Steine zum Fabrik - und Häuserbau. Im Umland brach Goldgräberstimmung aus. Rings um Berlin gab es riesige Tonlagerstätten. Ziegeleien entstanden und in kurzer Zeit wurden die Ziegeleibesitzer reiche Leute. Die noch vereinzelt erhaltenen Villen zeugen davon.
1860 bis 1862 entstanden vier Ziegeleien in Ketzin, 1863 sechs und zur Jahrhundertwende existierten in Ketzin 12 Ziegeleien mit 18 Ringöfen. 
Im Havelbereich zwischen Glindow – Ketzin – Brandenburg – Beetzsee – Riewendt - Premnitz entstanden insgesamt 82 Ziegeleien.
Für die Ziegelproduktion wurden Arbeiter gebraucht. Neben einheimischen Arbeitern wurden vor allem Kräfte aus Polen, Schlesien und dem Fürstentum Lippe beschäftigt.
Betrug die Einwohnerzahl der Stadt 1860 1053 Personen, so waren es 1880 2730 und 1895 3515. Dabei gab es ständig einen Männerüberschuss von 250 bis 300 Personen. Der Anteil, der in den Ziegeleien Beschäftigten an der Gesamtbevölkerung, betrug in Ketzin 1896 noch 45,5 %. „Nicht eingerechnet sind hier diejenigen Ziegelei- und landwirtschaftlichen Arbeiter, welche nur während der Sommermonate, zum kleinen Teil auch bis Neujahr in dem hiesigen Orte wohnen und arbeiten. Die Zahl derselben ist zu veranschlagen auf ca. 1400“, schreibt Bürgermeister Otto Zesch 1893 in seinem Bericht an die Potsdamer Regierung. 
Die Stadt Ketzin war zu dieser Zeit ein unansehnlicher Ort. Zwar konnte sie sich seit 1255 als Stadt bezeichnen, aber sie hatte den Charme eines größeren Dorfes. Die meisten Straßen waren ungepflastert und Bürgersteige gab es nicht. Die Chausseen nach Falkenrehde, Brandenburg, Paretz und Schmergow waren Landwege. Bei Regenwetter waren sie alle sehr schwer passierbar. Die Stadt selbst fing von Nauen kommend erst in Höhe des heutigen Mühlenweges an.
In dieser Zeit entstanden rund um Ketzin die Ziegeleien mit ihren hohen Schornsteinen, die Tag und Nacht in Betrieb waren und ihren Qualm bei ungünstigen Windverhältnissen in den Ort bliesen. Einige Tongruben befanden sich gleich neben der Stadt, die meisten aber im heutigen Bereich Brückenkopf. Aber auch zwischen Ketzin und Paretz und in Paretz wurden Steine produziert.
Belegschaft einer Ketziner Ziegelei
Die Ziegeleiarbeiter waren in sogenannten Ziegeleiarbeiterkasernen untergebracht. Von denen jeder Ziegeleibesitzer mindestens eine erbaute. Für die Saisonkräfte bestanden diese meistens aus zwei Geschossen. Im Erdgeschoss gab es einen Essaal und im Obergeschoss einen Schlafsaal. Die Arbeiter lebten hier auf engstem Raum. Für Familien gab es in den Kasernen Wohnungen, die aus einer Küche und einer Stube bestanden. Ohne Rücksicht darauf, wie viele Personen zur Familie gehörten. Hygiene war Nebensache. Die Aborte waren sogenannte „Plumpsklos“ und standen neben einer großen Fäkaliengrube an der Unterkunft. Die Aborte am Ringofen waren für unser heutiges Verständnis noch katastrophaler eingerichtet. So gab es auf dem Ziegeleigelände von Wilhelm Hornemanns Erben gleich neben dem Pferdestall und dem Ringofen ein 5m langes und 1,75m breites Abortgebäude für 7 männliche Personen ohne Zwischenwände. Angeschlossen war ein Abort für Frauen, dass 1m x 1,25 groß war. Dahinter befand sich die Fäkaliengrube für Menschen und Pferde. Aufgrund einer Beschwerde von Arbeitern des Ziegeleibesitzers August Müller, die bei dessen Schachtmeister Schellhase untergebracht waren, kontrollierte der Hilfspolizei-Sergeant Kähnen deren Wohnverhältnisse. Die Arbeiter schrieben u.a., dass sie wie die Ferkel im Stall leben müssten. Sie können es nicht mehr aushalten vor Ungeziefer, Läusen und Flöhen. Vor allem fehlen Strohsäcke auf den Bettgestellen.
Der Polizist stellte fest, dass die Betten unter 1,90 m lang und nur 60 cm breit seien, Strohsäcke fehlen bzw. schlecht sind, der Abtritt nicht desinfiziert ist, Wände nicht geweißt und die Fußböden weder gedielt noch gepflastert seien.
Der Fußgendarm der 3. Gendarmerie Brigade Hummel stellte bei einer Kontrolle der Lebensverhältnisse auf der Ziegelei Friedrich Albrecht fest, dass die Arbeiter ihr Trink- und Brauchwasser aus dem von ihren Unterkünften 200 m entfernten Kanal holen müssen und das die Abtritte an manchen Wohnungen fehlen.
Nach seiner Kontrolle in einer Unterkunft auf der Ketziner Feldmark, die von den Unternehmern Carl und Georg Lehmgruber errichtet wurde, berichtete er: die Unterkunft bestehe aus einem 12 m² großen Raum, in dem 10 Arbeiter leben und schlafen; die Lagerstellen wären zu schmal, Strohsäcke, Decken und Kissen fehlen; der Wohnraum ist nicht gepflastert; der Raum hat keine Fenster; Trink- und Brauchwasser wird aus den sich in der Nähe befindenden Erdlöchern geholt; es gibt keinen Abtritt, so dass die Umgebung der Unterkunft stark verunreinigt ist. 
Solche Unterkünfte waren wahrscheinlich keine Einzelfälle. Es sind Bauzeichnungen vorhanden, die Unterkünfte in der Größe von 20m² oder auch 30 m² und einer Höhe von 3,75 m für 10 Ziegeleiarbeiter vorsehen. Sie unterscheiden sich darin, dass die größere Hütte statt einer Bank drei hat. In der kleineren Hütte steht diese unter dem Fenster, in der größeren stehen zwei am Tisch und die dritte unter dem Fenster. Somit besteht die Einrichtung aus 5 Doppelstockbetten, 1 Tisch, 1 Bank bzw. 3 Bänken und hat ein Fenster und eine Tür.
Es ist bei solchen Lebensumständen nicht verwunderlich, dass es sehr viele Krankheiten sowohl unter den Arbeitern, als auch unter der Ketziner Bevölkerung gab. Der Ketziner Arzt Dr. Pinschovius bescheinigte der Stadt in gesundheitlicher Hinsicht „keinen guten Ruf“. 
Die Ziegeleibesitzer waren gesetzlich verpflichtet, Betriebskrankenkassen (BKK) einzurichten. So hatte dann auch jede Ziegelei solche Kasse. Die größte war die von Wilhelm Hornemann mit 147 Mitgliedern, die kleinste bestand im Betrieb von Albert Kuhberg mit 30 Mitgliedern. Die Arbeiter mussten in den Betrieben von ihrem Lohn zwischen 1,6 % und 2,5 % Krankenkassebeitrag bezahlen. Wurden sie krank, erhielten sie 50 % ihres Lohnes 13 Wochen als Krankengeld. 1887 brach in einigen Ziegeleien eine Augenkrankheit aus. Aber weder die Arbeiter gingen zum Arzt, noch wurden sie vom Ziegeleibesitzer dafür freigestellt. Der Ziegeleibesitzer Otto Dietrich verhindert sogar den Arztbesuch. Zwar gab es Ende des 19. Jahrhunderts in Ketzin ein Krankenhaus, aber für den einfachen Arbeiter und auch für die BKKs waren die Tagessätze zu hoch. Die am besten bezahlte Berufsgruppe der Ziegeleiarbeiter bekam am Tag 3, 00 Reichsmark, die Erdsticharbeiter 2,00 RM und Frauen und Kinder wurden noch schlechter bezahlt bei einem 14 bis 16 stündigen Arbeitstag. Die Arbeitsordnung des Ziegeleibesitzers Kurt Berndt in Paretz legte u.a. in §3 fest, dass „Die tägliche Arbeitszeit der Erwachsenen, das ist der über 16 Jahre alte männliche Arbeiter, dauert von morgens 4 Uhr bis abends 21 Uhr, jedoch bleibt es den Ein- und Auskarrern , auch den Streichern und anderen Akkordarbeitern überlassen, länger zu arbeiten“. Der Tagessatz für einheimische Kranke betrug im Krankenhaus 2,50 RM für die 1.Klasse und 1,75 RM für die 2. Klasse. Das war sogar in der 2. Klasse mehr als der Arbeiter an Krankengeld bekam, und auch die BKKs waren mit diesen Sätzen überfordert. Kranke, die nicht durch eine Krankenkasse eingewiesen wurden, mussten einen Vorschuss von 50, 00 RM bezahlen. Wohlhabende Ketziner gingen in die Krankenhäuser der großen Nachbarstädte, da dort die ärztliche Betreuung gesichert war. In Ketzin tat ein ansässiger Arzt auf Honorarbasis Dienst und war nicht immer verfügbar. Geleitet wurde das Haus durch eine Schwester der Paul-Gerhard- Stiftung Berlin.
Um diesem tristen Leben wenigstens für einige Stunden zu entgehen, hatten die Arbeiter und die weiblichen Beschäftigten die Möglichkeit in Ketzin insgesamt 30 Lokalitäten aufzusuchen. Neben den Tanzgaststätten gab es auch kleinere Lokalitäten, die eine Konzession für den Ausschank von Bier und Branntwein hatten, Einzelpersonen, die aus ihrer Wohnung heraus Getränke verkauften und selbst der Ziegeleibesitzer August Müller unterhielt auf seinem Ziegeleigelände einen Getränkeverkauf.
Besonders beliebt bei den Arbeitern waren die Tanzvergnügen in den Gaststätten. Die größte Gaststätte befand sich neben dem Pfarrhaus in Ketzin. Sie gehörte dem Gastwirt Klemm. Da die hart arbeitenden Menschen ebenso bis zum Umfallen feierten, sich schlugen und ihre Notdurft dicht neben dem Tanzsaal und dem Pfarrhaus verrichteten, beschwerte sich der Pfarrer Karl Rüthnik über solchs zügellose Treiben. Er hatte damit keinen Erfolg. Die Gastwirte verdienten gut und die Polizisten nahmen bestimmt gerne einen kleinen Schnaps von ihnen, wenn sie ihren Kontrollgang zur Einhaltung der Gewerbeordnung durchführten.
Ebenso erfolglos blieb der Pfarrer mit seinem Hinweis, dass die Menschen aus Polen und den anderen Gebieten zum großen Teil Katholiken waren und die Vorherrschaft der evangelischen Kirche gefährden würden. Auch da war ihm kein Erfolg beschieden. Bald entstand eine katholische Kapelle in der Neuen Straße, heute Breitscheidstrasse, und genau vor hundert Jahren wurde die Ketziner katholische Kirche gebaut. Sie ist heute neben der evangelischen Kirche ein Wahrzeichen von Ketzin.
Belegschaft einer Paretzer Ziegelei
Der von vielen Historikern hoch gelobte industrielle Aufschwung in den Dörfern und Städten um Berlin, brachte für die Arbeiter und ihre Familien keinen Wohlstand. Theodor Fontane beschrieb das in seinen „Wanderungen durch die Mark Brandenburg“, im dritten Teil „Havelland“ so: „Der Fabrikschornstein mag alles sein, nur ein Verschönerungsmittel ist er nicht … und wie er die Landschaft nicht schmückt, so schmückt er auch nicht die Dörfer … um die Veranden der Ziegellords rankt sich der wilde Wein, Laubengänge ziehen sich durch den Parkgarten, aber diese lachenden Bilder lassen die Kehrseite nur um so dunkler erscheinen: die Lehmstube mit den verklebten Fenstern, die abgehärmte Frau mit dem Säugling in Loden, die hageren Kinder, die lässig durch den Ententümpel gehen.
Es scheint, sie spielen; aber sie lachen nicht; ihre Sinne sind trübe wie das Wasser, worin sie waten und plätschern“.
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